„Die Wahrnehmung scheint die Basis unseres Denkens und Handelns zu sein. Bleibt das, was wir im Feld der Erscheinungen wahrnehmen, aber im Bild einer Vor-Stellung hängen, haben wir die Verbindung zu unserem Sein verloren.“

Günther Titz findet Formen, wobei Form für den Künstler in erster Linie Proportionalität bedeutet. Er distanziert sich dabei vom Prozess einer Komposition, von der Malerei als Schöpfung. Statt von einer Komposition wird jedes Bild von seinem eigenen Findungsprozess bestimmt.

Von Pappkarton, Zahlencode...
Dr. Dirk Teuber, 2018
Beobachtungen zu einigen Werken
von Günther Titz


Aseptische Distanz
Heike Marx, 2015
Die Rheinpfalz - Kultur Regional
2. März 2015


OUT OF THE DARK
Katharina Arimont, M.A., 2015
Einführungsrede
Kunsthaus Frankenthal (Pfalz)

Spiele der Doppeldeutigkeit
Prof. Dr. Johannes Meinhardt, 2015
Katalogtext
Günther Titz - Malerei und Fotografie

Günther Titz - OUT OF THE DARK
Redemanuskript zur Einführung in die Ausstellung, 27. Februar 2015
von Katharina Arimont, M.A. Ludwig Museum Koblenz


OUT OF THE DARK ist der Titel der Ausstellung von Günther Titz, in die ich heute inhaltlich einführen darf. Out of the dark – Heraus aus der Dunkelheit ist auch leitgebend für Günther Titz‘ Kunst: Er lichtet, legt frei, macht sichtbar. Etwas aus der Dunkelheit herauszuholen impliziert, dass es bereits da ist, im Verborgenen – es muss gefunden und in das Licht gerückt werden. Dieser Vorgang der Sichtbarmachung wird in Günther Titz‘ Gemälden und auch bereits in deren Entstehungsprozess besonders deutlich. Er arbeitet mit handelsüblichen braunen Kartons, deren Aufdrucke ihm die Komposition seiner Werke gewissermaßen vorgeben. Dort, wo sich auf dem Karton eine Beschriftung befindet – eine Nummer, Ziffern, Kombinationen aus Zahlen und Buchstaben – übermalt er diese mit einem farbigen Streifen; die Platzierung und Breite des jeweiligen Farbstreifens ist demnach abhängig von der Platzierung und Größe der jeweiligen Beschriftung. Die übrige Kartonfläche ist mit weißer Farbe übermalt und der Karton als solcher nicht mehr ersichtlich. An diesem Punkt schleift Günther Titz Teile der Farbe wieder ab… legt Teile des Kartons somit wieder frei, sodass dieser bruchstückhaft zu sehen ist und bzw. oder durch eine transparente Farbschicht hindurchschimmert. So können wir auf einem Werk beispielsweise lesen „Carton Nr. 401“. Der Karton ist somit präsent, aber aus seinem funktionalen Kontext gerissen. Das fertige Gemälde entsteht durch ein System, eine Ordnung, die dem Karton bereits innewohnt – vorherbestimmt durch seine Funktion, die wiederum Format und Beschriftung bestimmt. Das ursprüngliche Ordnungssystem ist somit umfunktioniert.
OUT OF THE DARK ist auch der Titel der erstmals gezeigten Installation, die Sie im Ausstellungsraum sehen. Das erste, das uns als Betrachter ins Auge sticht, wenn wir den Raum betreten, sind auf dem Boden liegende Quadrate, alle in gleichem Format und jeweils in gleichem Abstand, ca. 4 cm, positioniert. Sie sind in weißer Farbe gehalten, auf ihnen befinden sich schwarze Ziffern und Buchstaben. Auf einer der Tafeln steht 17, auf einer anderen 123678 und darunter 6, auf wieder einer anderen 0712/2. Die Quadrate sind so angeordnet, dass wir keinen bestimmten Standpunkt einnehmen müssen, um ihre schwarzen Ziffern und Buchstaben zu lesen… wir gehen ein Stück… und nun überlegen wir… erkennen Vertrautes wie einzelne Zahlen, die jedoch eher fremd erscheinen, da sie keinen Sinn ergeben. In unserem alltäglichen Leben treffen wir auf Zahlen nur innerhalb eines Kontextes, wir sind mit ihnen nie konfrontiert, ohne dass sie für uns eine Funktion erfüllen. Wir versuchen zu verstehen, die einzelnen Tafeln untereinander zu vergleichen: Könnte dies ein Datum sein, jenes eine Telefonnummer? – Wir kommen nicht weiter, es entsteht eine Art Mysterium…
An den Wänden hängen 12 kleinere, gerahmte Arbeiten, ebenfalls quadratischen Formats. Innerhalb eines großflächigen Passepartouts befinden sich kleine Objekte, unregelmäßig in der Form: Eines sieht aus wie ein Dreieck mit abgeschrägter Ecke, ein weiteres gleicht einer Raute. Sie sind unterschiedlich in der Farbigkeit und auf ihnen sind Informationen gedruckt: Eines der Objekte ist orange mit dem schwarzen Aufdruck der Zahl 4; auf einem anderen sind vier farbige Kreise zu erkennen, darüber steht 20 x 23 x 75; ein weiteres zeigt orangefarbige Zahlen von 1-12. Eines wellt sich in der Oberfläche, hat leichte Knicke – so können wir das Material ausmachen: Karton. Es handelt sich bei den kleinen Objekten um Kartonobjekte mit nicht akkurat geschnittenen, sondern häufig gerissenen Kanten, zerfledderten Ecken.. Sie erscheinen uns fremd, aber nicht völlig fremd, wir ahnen, dass es sich hierbei um etwas handeln muss, das regelrecht aus dem Kontext gerissen ist… und in der Tat – es handelt sich bei den Miniaturen um Bestandteile von kleinen Faltschachteln, die sogenannten Staublaschen. Ihre Funktion ist, das Eindringen von Staub und Fremdkörper in das Innere der Schachtel zu verhindern; bei Einsteckfaltschachteln arretieren sie die Einstecklasche, sodass sich der Deckel nicht mehr öffnen lässt. Als solche nehmen wir sie einzig in ihrer Funktion wahr, hier jedoch sind sie unverändert, einfach abgerissen und als Kunst ausgestellt. Wir haben hier demnach einen unveränderten Alltagsgegenstand als Kunst.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts deklarierte Marcel Duchamp erstmals Alltagsgegenstände, wie u.a. ein Pissoir oder ein Rad eines Fahrrads ohne Eingriff in deren Erscheinungsform als Kunst – so wurde ein gewöhnliches Alltagsobjekt zu einem ästhetischen Kunst-Objekt, dem sogenannten Ready-Made. Durch diese Kunst-Werdung wird der alltägliche Gebrauchsgegenstand nicht mehr funktional wahrgenommen, sondern ästhetisch – wir sehen ein solches Kunst-Objekt anders als gewohnt, beginnen über das Gewohnte nachzudenken und es als Absolutes in Frage zu stellen. Unsere Alltagswahrnehmung ist eine auf Funktionalität reduzierte, selektive Wahrnehmung; die ästhetische Wahrnehmung bringt uns dazu innezuhalten, sie provoziert unsere Aufmerksamkeit und evoziert eine Irritation. Das Kunstwerk ist nicht das, was es vorgibt zu sein – so wie im Theater der Schauspieler nicht Hamlet ist und Hamlet kein Schauspieler ist. Der Alltagsgegenstand in der Kunst erscheint uns vertraut und fremd zugleich – vertraut, da das Alltägliche im Werk präsent ist; fremd, da es die auferlegten funktional gewohnten Ordnungen übersteigt. Der deutsche Philosoph Bernhard Waldenfels (*1934) betont die Bedeutsamkeit dieser Bindung des Fremden an das Vertraute; so müsse das Fremde noch eine Beziehung zum Gewohnten haben, um überhaupt als solches in Erscheinung treten und Wirkungskraft entfalten zu können.
Etwas sichtbar machen, es in das Licht rücken – symbolisch, wie die Staublasche, die sonst im Inneren der Schachtel verborgen ist und metaphorisch, wie das Mysterium, das das Kunstwerk erzeugt - zieht eine Verbindung zu Martin Heidegger (1889-1976), der in seiner Schrift Der Ursprung des Kunstwerkes, das Wesen der Kunst als „Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden“ beschreibt. Es sei ein „Geschehnis der Wahrheit“ am Werk, „die Eröffnung des Seienden in seinem Sein“. „Wahrsein“ meint bzw. kommt laut Heidegger nur mithilfe des Kunstwerkes zutage, indem etwas sichtbar gemacht wird. Das Seiende aus seiner Verborgenheit herauszunehmen und es als Unverborgenes sehen und entdecken zu lassen ist nach Heidegger „Wahrsein“. „Falschsein“ hingegen meint für ihn Täuschen im Sinne von Verdeckt-sein. Die Wahrheit, die durch die Kunst an das Licht kommt… - um Heideggers Kriterien zur Bestimmung des Wesens von Kunst auf beispielsweise ein Ready-Made anwenden zu können, müssten wir ihn zunächst auf sich selbst anwenden, um den Kunstbegriff zu erweitern. Wir können Günther Titz‘ Kunst jedoch als eine Hommage an Martin Heideggers Philosophie verstehen, denn seine Kunst zeigt auf, dass das Wesen der Dinge für uns etwas Fremdes ist und ein Mysterium erzeugt bei dem Versuch, es mit unseren sinnlichen Wahrnehmungen zu erfassen. Die Vorstellung, die wir uns von den Dingen machen, enthüllt ihr wahres Wesen nicht. Im Kunstwerk hingegen wird die Wahrheit des Seienden in das Sein gesetzt und das Verborgene sichtbar gemacht.
Für uns als Betrachter erscheint eine Art Widerspiel von Sehen und Neu-Sehen, das sich auch beim Betrachten von Günther Titz‘ Fotografien ereignet. Sie zeigen allesamt Fassaden von Gebäuden, meist Industriegebäude, von außen fotografiert, schräg, in einem Winkel von 45 Grad mit Fokus auf die erste Bildebene. Es sind transparente Glasscheiben zu sehen, Durchlässe, Spiegelungen, die nur schwer bis kaum differenziert klar auszumachen sind. Wir können die Raumsituationen nicht eindeutig ausmachen, sondern geraten in einen Zustand der Mehrdeutigkeit…
In der heutigen Zeit, so Bernhard Waldenfels, sei es wichtig, eine offene und mehrdeutige Haltung einzunehmen. Es käme darauf an, neue Ordnungsformen zu entwickeln, in denen auf vielfache Weise das Ungleichartige durchscheint. Daraus ergäben sich Möglichkeiten einer Übertretung und Verknüpfung von Erfahrungsstrukturen und Erfahrungswelten, die auf ein ,Außer-ordentliches‘ zielen, ohne es einzugemeinden. Durch die Überschreitung einer bestehenden Ordnung kommt etwas ,Außer-ordentliches‘ ans Licht, das sich der im Alltag gewohnten Ordnung entgegensetzt, und so werde ein aktives und offenes Sehen provoziert, das die Welt nicht nur widerspiegelt, sondern neu hervorbringt. Denn – so stellt Waldenfels fest – „Wirklichkeit ist nicht, was schlicht der Fall ist, sondern was sich unter bestimmten Auswahlbedingungen verwirklicht.“ Günther Titz setzt in seinen Fotografien Ebenen in Beziehung, erzeugt ein Dazwischen, eine Art körperlicher Erfahrungsraum - Raum für Reflexion, für neue Ideen, die sich durch unser aktives Sehen und Denken verwirklichen, indem wir mit Hilfe seiner Kunst lernen querzudenken, Vorhandenes neu zu sehen, Ordnungen zu überschreiten und ,Außer-ordentliches‘ zu schaffen.

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